Kurzgeschichten Testbericht

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Erfahrungsbericht von Deborah

Nur ein kleiner Zettel

Pro:

schön, wenn man erkannt, dass es vorbei ist

Kontra:

es ist vorbei

Empfehlung:

Nein

Hallo W.,
wenn du diese Zeilen liest, bin ich nicht mehr da. Ich habe den Tatsachen ins Auge geblickt und erkannt, dass wir uns auseinander gelebt haben. Trotz eines gemeinsamen Kindes sind nicht mehr viele Gemeinsamkeiten geblieben. Es ist besser, wenn jeder seinen eigenen Weg geht, bevor wir zusammen einen Weg gehen, der nicht unser ist.
Ich hoffe du kannst mir verzeihen.
H.“

Langsam gleitet ihr der Zettel aus den Händen, fast genauso langsam laufen die Tränen über ihre Wangen. Das ist nun alles, was von so vielen gemeinsamen Jahren übrig geblieben ist. Ein kleiner Zettel mit ein paar Worten, die entgültiger nicht sein könnten.
Ein Stück Papier für das Erinnerungsalbum, obwohl Erinnerungen kein Album brauchen, um sich ins Gedächtnis zu bringen. Gewollt und viel zu oft ungewollt bahnen sie sich ihren Weg ins Bewusstsein. Gerade jetzt lassen sich ihre Erinnerungen nicht in den Tiefen, in denen sie sonst begraben liegen, festhalten.
All die schönen Zeiten, die sie hatten, drängen sich vor ihr inneres Auge. Wann war der Punkt auf der Zeitskala ihrer Beziehung, als Spontaneität von Gewohnheit abgelöst wurde? Wann hatte sich Leidenschaft in Routine verwandelt?
Es fällt ihr schwer den Tag X zu benennen, denn Entwicklungen sind schleichend, unbemerkt am Anfang und unwiderruflich zum Schluss. Der Lauf der Dinge? Ein normales Stadium einer Partnerschaft? Oder eine Sache der Schuld?
Schuld....ein großes Wort, dass am Ende doch ohne Bedeutung scheint, denn die wenigen Worte auf einem kleinen Zettel sind unabhängig von Schuld. Sie stehen für sich, auch wenn sie die Buchstaben durch den Tränenschleier kaum erkennen kann.

Ihre Gedanken drehen sich im Kreis, schweifen ab und kehren wieder zurück. Erinnerungen vermischt mit Zukunftsängsten. Wie soll sie nur dem Kind erklären, dass die scheinbar heile Familie nun nicht mehr existiert? Was soll sie sagen, wenn ihr schon in Gedanken die Worte fehlen. Auseinandergelebt, miteinander nebeneinander gelebt.

Andere Erinnerungen treten nun in den Vordergrund. Laute und leise Diskussionen um Wichtigkeiten und Nichtigkeiten. Schweigen, das in den Ohren schmerzt und erfüllt ist von Ablehnung und Aggression. Gemeinsame Unternehmungen, die in gemeinsamer Frustration und einsamer Isolation enden.

Hätte sie mehr kämpfen müssen? Hätte sie ihren Alltagstrott, ihre Gleichgültigkeit einfach zur Seite schieben können, um das wieder wachzurütteln, was vielleicht noch im Verborgenen schlummert? Gekämpft hatte sie, gekämpft gegen unsichtbare Windmühlen, die sich doch nicht bezwingen lassen wollten. Letztendlich hat sich der Mitstreiter umgedreht und ihr den Rücken gekehrt. Ein einsamer Kampf führt nicht zum Sieg, nur zur innerlichen Erschöpfung.

Sie waren den Weg so lange gemeinsam gegangen, wie soll sie den Weg nun allein finden?
Seltsam, wie man an Dingen oder Menschen festhält, aus Angst eine neue Richtung einzuschlagen. Lieber ein bekannter Stolperpfad, als eine unbekannte Schnellstrasse.
Ihr Stolperpfad endet wohl hier, vor einem Abgrund.
Wenn jemand diesen Abgrund hinuntersteigen würde, würde er eine Menge Emotionen dort vorfinden. Angst, Enttäuschung, Wut und Trauer. Und vielleicht würde in einer abgelegenen Ecke diese Abgrunds auch ein kleines gebrochenes Herz liegen. Gefühle lassen sich auch von Differenzen, Verletzungen und Entfremdung nicht so einfach abschalten. Gefühle müssen langsam abkühlen. Sie brauchen Abstand, räumlichen als auch zeitlichen.

Sanft streicht ihre Hand noch einmal über den kleinen Zettel. So unbedeutend sieht er aus. Ein paar mühsam geschriebene Buchstaben, die am Ende so vieler Jahre übrig bleiben.
Sie strafft die Schultern und steht auf.

Es ist Zeit zu packen, damit sie fort ist wenn er ihre Zeilen liest.

16 Bewertungen, 3 Kommentare

  • Indigo

    25.08.2002, 18:26 Uhr von Indigo
    Bewertung: sehr hilfreich

    Niemals geht man so ganz, ein kleines Stück bleibt hier. Und wie sagt man mir immer: Zukunft braucht Herkunft

  • ahaefner

    19.03.2002, 19:26 Uhr von ahaefner
    Bewertung: sehr hilfreich

    Das PRO habe ich gerade selbst erkannt... Ganz liebe Grüße, Andreas

  • Anubis71

    13.03.2002, 22:05 Uhr von Anubis71
    Bewertung: sehr hilfreich

    Eine traurige Sache, aber sehr schön geschrieben. Lies doch auch mal meine Kurzgeschichte "Die Fassade" Ich denke die wird dir gefallen. Musst ja nicht bewerten! :-))