Kurzgeschichten Testbericht

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Erfahrungsbericht von audicla

Ein Missverständnis

Pro:

müssen die Leser entscheiden

Kontra:

müssen ebenfalls die Leser entscheiden

Empfehlung:

Nein

Für diejenigen, die die Muße haben eine etwas längere "Kurz"geschichte hier zu lesen:- keine wahre Geschichte -


Ein Missverständnis

Es gibt Menschen, die wissen von früh auf genau, was sie wollen und gehen emsig und zielstrebig darauf zu. Ich bin jedes Mal vollkommen erstaunt, wenn mir eine 20jährige Studentin, gerade das Abitur in der Tasche, mit Präzision darlegt, wie sie ihren beruflichen Werdegang geplant hat und welche ersten Schritte bereits in die Wege geleitet sind. Manche Menschen neigen dabei zum Pragmatismus, andere verwirklichen tatsächlich ihre Träume. Ich kannte einen jungen Mann, der wusste mit 12 Jahren schon genau, dass er einmal Pilot werden wollte. Schon damals kannte er sich sehr gut in den Sphären aus, die in diesem Beruf wichtig sind und lebte mehr im Himmel als auf Erden. Tatsächlich flog er später für die Lufthansa. Allerdings stürzte er ab, als er gerade mal Anfang 30 war.
Andere Menschen hingegen überlassen ihr Leben Zufällen oder dem Schicksal. Das kann daran liegen, dass ihnen die Möglichkeiten und Perspektiven schlichtweg fehlen, die andere haben oder auch daran, dass sie nicht wissen, was sie wollen und sich nicht festlegen können.
Ich gehörte wohl mehr zu den Letzteren und es wäre gelogen, wenn ich behaupten würde, ich hätte jemals eines meiner Ziele erreicht. Ich hatte nämlich nie welche, Ziele meine ich. Ich hatte ein paar Wünsche, Ideen, Vorstellungen; eine kreative Phantasie könnte man sagen, wollte man es positiv ausdrücken. Andere würden sagen: Ich hing herum und wusste nichts mit meinem Leben anzufangen.

Nach dem Abitur, das ich mit Hängen und Würgen mit 19 Jahren erwarb, machte ich eine Ausbildung zur Buchhändlerin. Nicht etwa, weil ich mich zu diesem Beruf besonders befähigt oder hingezogen gefühlt hätte. Es ergab sich einfach so, da ein Freund meiner Mutter einen Buchladen besaß und es den geringsten Aufwand bedeutete, bei ihm in die Lehre zu gehen, zumal er meine gelegentlichen Blaumachereien und andere Eskapaden wie das stetige Schwänzen der Berufsschule schweigend hinnahm. In Wahrheit hatte er schon lange ein Auge auf meine Mutter geworfen, die seit mein Vater sie, als ich zwei Jahre alt war, verließ, allein lebte. Ich wusste, dass sie dem schon recht ergrauten Bücherwurm nebst zarter Wampe nichts weiter als freundschaftliche Gefühle entgegenbrachte, aber nichtsdestotrotz machte er ihr jahrelang den Hof und geht ihr, soweit ich weiß, noch heute hilfreich zur Seite, wenn es irgendwie brenzlig wird.

Nachdem ich die Lehre beendet hatte, war ich arbeitslos. In der Buchhandlung konnte ich nicht bleiben. Zum ersten Mal in meinem Leben musste ich mich ernsthaft um etwas bemühen und mir eine neue Stelle suchen. Meine Zeugnisse waren nicht gerade von Bravour, ehrlich gesagt waren sie miserabel. Ich wollte auch nicht wirklich arbeiten, das war das zweite Problem. Tagaus tagein der gleiche Alltag: Bücherabstauben, Kunden beraten, lesen .... Es langweilte mich alles zutiefst. Aber ich brauchte Geld. Mutter duldete nicht länger, dass ich ihr auf der Tasche lag und das Geld vom Arbeitsamt hätte nie und nimmer für eine eigene Wohnung gereicht. Ich hasste es über alle Maßen diese Bewerbungsschreiben aufzusetzen, in denen jedes Wort geheuchelt oder gelogen war. Meine Unfähigkeit zum Engagement hochstilisiert, meine Lustlosigkeit als größte Motivation maskiert und meine schlechten Schulnoten mit einem falschen Zeugnis des Verehrers meiner Mutter besänftigt, der die Zeilen nur deshalb schrieb, um endlich Gehör bei ihr zu finden. Die Empfänger meiner Schreiben müssen wohl gespürt haben, dass zu viele Ungereimtheiten in den Worten lagen. Nie wurde ich zu einem Gespräch eingeladen. Immer kamen nur höfliche unpersönliche Schreiben zurück, die ich in einem Ordner zu sammeln und zu nummerieren begann. Nach der 20. Absage hatte ich die Nase gestrichen voll. Ich fand, das Leben sei ungerecht. Ich hatte mich doch ehrlich bemüht, Arbeit zu finden und endlich Verantwortung für mein Leben zu übernehmen. Wenn es jetzt nicht klappte, konnte es nicht an mir liegen. Mutter musste dafür Verständnis haben. Immerhin war ich ein zutiefst geschädigtes Kind einer alleinerziehenden Mutter gewesen, vaterlos und somit strukturlos aufgewachsen. Normalerweise halfen diese Vorwürfe und fielen bei ihr auf fruchtbaren Boden. Doch offensichtlich hatte ihr der neue Psychotherapeut einen Floh ins Ohr gesetzt. Sie war nicht davon abzubringen, dass ich mit meinen 22 Jahren für mich selbst sorgen und auf eigenen Beinen stehen sollte.
Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich ernsthaft resigniert. Vorher hatte das Leben mir Spaß gemacht und die lästige Ausbildung hatte ich als leidiges aber notwendiges Übel hingenommen. Eigentlich hatte ich nie wirklich darüber nachgedacht, wie es danach weitergehen sollte. Die Aussicht als Verkäuferin zu enden und mit müden Beinen, stets ein Lächeln mimend von früh bis spät im Geschäft zu stehen und Kunden zu bedienen, ließ mir die Zukunft wie ein großes schwarzes Loch erscheinen.
Kein Wunder, dass ich damals triumphierte, als ich Kostas kennenlernte und er mir dieses wunderbare Angebot machte.


Kostas war Grieche und studierte gemeinsam mit einer Freundin von mir seit kurzer Zeit in Frankfurt. Als er hörte, dass ich keine Arbeit fände und deswegen völlig durchhing, machte er mir eines Abends bei einem Glas Retsina im Studentenheim den Vorschlag, mit ihm den Sommer über nach Korfu zu kommen, wo seine Familie lebte. Er selbst wollte die Semesterferien über in der Taverne seines Onkels arbeiten. Meine Englischkenntnisse waren nicht besonders gut und auch Kostas Deutsch ließ noch zu wünschen übrig, so dass es eine Weile dauerte, bis ich überhaupt verstanden hatte, was er meinte. Gewöhnlich frotzelten und flirteten wir in einem kuriosen Kauderwelsch miteinander und meistens versuchte ich ihn mit meinen Augenaufschlägen zu beeindrucken. Kostas schien ernsthaft besorgt um mein seelisches Gleichgewicht. Warum sonst hätte er mich einladen sollen, mit in sein Land zu kommen und sein Gast zu sein. Ich rechnete meine finanzielle Situation genauestens durch. Für den Flug reichte es noch und ein wenig Taschengeld würde ich auch noch haben. Wenn ich bei Kostas Familie lebte, kostete es mich nichts. Ich würde Mutter nicht auf der Tasche liegen, das hatte sie ja gewollt und wenn ich zurückkäme, könnte ich immer noch Verkäuferin werden. Kurz entschlossen befand ich mich zwei Wochen darauf im Flieger nach Kerkira. Während des Fluges träumte ich von Olivenhainen, Zypressen und Strandbars, von brauner Haut und langen Nächten an Kostas Seite. Kostas Eltern waren von ungewöhnlicher Freundlichkeit und Wärme. Ich spürte, dass ich hier etwas finden könnte, was mir in Deutschland fehlte. Wenn auch mein Zimmer nicht gerade einem Hotelzimmer glich, so war ich doch damit zufrieden.
Die ersten Tage waren herrlich. Wir schwammen im Meer und blickten auf das gegenüberliegende Festland, das wie eine Wüste wirkte. Reichlich kahl und fast baumlos lag es da, während hinter uns in den Bergen von Korfu das Grün nur so strömte und der Blütenreichtum die Insel verzierte. Kostas Mutter machte Moussaka und gefüllte Weinblätter. Morgens gab es Melonen und herrliche Orangen - frisch gepflückt.
Wir waren etwa vier Tage dort, als Kostas mir eines Morgens in gebrochenem Deutsch-Englisch erklärte, dass wir heute Abend mit der Arbeit beginnen würden. Ich wusste nicht, wovon er sprach. Zwar war mir bewusst, dass er zum Arbeiten hier hergekommen war. Schließlich kostete das Studium in Deutschland Geld und insgeheim hatte ich mich schon gefragt, wann er damit beginnen würde. Aber was hatte das mit mir zu tun? Ich war doch hier um Urlaub zu machen und um mein seelisches Gleichgewicht wieder herzustellen. Erst nach und nach dämmerte mir, dass es sich um ein furchtbares Missverständnis gehandelt haben musste. Ich war nicht etwa eingeladen, sein Gast zu sein, sondern als Küchenhilfe in der Taverne von Nikos, dem Onkel, fest für die Saison eingeplant. Und das ohne einen richtigen Lohn. Kost und Logis und ein bisschen Taschengeld hatte man mir dafür zugedacht, dass ich Abend für Abend in der überhitzten Küche schwitzte und mir meine schönen Hände im Spülwasser kaputt rieb. Fünf Tage schuftete ich ohne eine Miene zu verziehen. Nur wenn ich nachts allein in meinem Zimmer lag, weinte ich gelegentlich mein Kissen nass und überlegte, wie ich dieser für mich furchtbaren Ausbeutung entkommen könnte. Der Rückflug war fest gebucht, das Geld für einen Linienflug fehlte mir. Außerdem wartete zu Hause die Aussicht auf ähnliche Unbill.

Wenn auch tagsüber immer noch Zeit blieb für ein Bad im Meer, ein Kaffee in der Strandbar und ein paar nette Gespräche mit Kostas, so hasste ich ihn doch insgeheim dafür, dass er mich als Arbeitsmagd in dieses mir unbekannte Land entführt hatte und nicht die geringsten Anzeichen von Mitleid zeigte. Natürlich waren alle freundlich wie bisher und Kostas Mutter kochte weiterhin griechische Köstlichkeiten, aber mir kam alles wie ein abgekartetes Spiel vor, in dem ich Opfer und Verliererin zugleich war. Zudem fehlten mir die sprachlichen Möglichkeiten, mich mit Kostas ernsthaft auseinander zusetzen und ihm meine Wut zu zeigen. Ich hätte natürlich meine Mutter anrufen und mir Geld für ein Rückflugticket schicken lassen können, doch die Aussicht reumütig zurückzukehren, ihrem Spott und ihrer Kritik ausgesetzt zu sein, war schlimmer als standzuhalten. So gingen die Wochen dahin, bis ich mich schließlich fast an das Leben als Küchenmagd gewöhnt hatte. Mit der Zeit begann ich sogar, ein wenig griechisch zu verstehen und zu sprechen und irgendwie machte sich manchmal das Gefühl breit, dass es an manchen Tagen angenehm war, dazuzugehören und nützlich zu sein. Tagsüber begann ich damit, allein die Insel zu erkunden. Ich nahm Kostas Moped und fuhr in die Wälder, sah von den Hügeln und Bergkuppen auf das Meer hinunter. Abends in der Taverne fütterte ich heimlich mit den Küchenabfällen die verwaisten Katzen, die sich am Hinterausgang der Küche herumtrieben.

Trotzdem blieb der Neid, wenn ich die Touristen beobachtete, die sich bedienen ließen, ihren Spaß hatten und vollkommen unbeschwert in der Sonne dösen konnten. Mit meinen grazilen Fingern wusch ich anschließend ihre Teller ab. Ich schnitt Tomaten und Salat, legte den Schafskäse ein und sah das Elend der zerhackselten Tintenfische Abend für Abend auf der schmalen Ablage der Küche mit an. Von den Gerüchen wurde mir schlecht, vor allem wenn es so heiß war. Wie eine Königin freute ich mich auf den Samstagabend, wo ich frei hatte und tun und lassen konnte, was ich wollte. Ich sparte mein Geld, um mir ein Kleid zu kaufen, das ich in einem Laden in Lefkimi gesehen hatte. An jedem Samstag trug ich das Kleid und ging mit Kostas und seinen Freunden aus.

So gingen die Wochen dahin und schließlich die Saison dem Ende zu. In einer Woche schon ging unser Flug zurück nach Deutschland. Eigentlich hätte ich in die Hände klatschen und froh sein sollen, diesem Martyrium zu entkommen, aber der Gedanke zurückzukehren schreckte mich auf eine mir unbekannte Weise. Nun weinte ich wieder nachts in meine Kissen, aber aus einem anderen Grund. Ich war traurig. Ich wollte nicht zurück. Ich hatte begonnen, mich wohl zu fühlen und vor allem hatte ich hier ein zu Hause. Am Tag vor der Abreise fuhr ich ein letztes Mal in die Berge hinauf, um die nun schon trockenere Pflanzenwelt und die Gerüche der zu Boden gefallenen Oliven noch einmal zu kosten. Von hoch oben ließ ich meinen Blick über einen Teil der Insel schweifen und fasste meinen Entschluss. Ich würde einfach hier bleiben. Sollte Kostas doch allein nach Deutschland zurückfahren.
Zurück im Dorf begannen schwere Verhandlungen. Man nahm mir das Versprechen ab, die Großmutter den Winter über zu versorgen, mich um die Hühner und Ziegen zu kümmern und im nächsten Jahr bereits in der Frühsaison wieder in die Küche zu gehen. Dafür durfte ich weiter mein Zimmer bewohnen, wurde versorgt und bekam 30.000 Drachmen im Monat. Das war soviel, dass es für ein paar Kleinigkeiten reichte. Ich willigte ein ohne weiter nachzudenken.

Sie werden es nicht für möglich halten, aber das ist jetzt 10 Jahre her und ich lebe noch immer auf Korfu. Meine Hände leiden nicht mehr unter dem Spülwasser. Sie sind wieder zart, wenn auch etwas älter geworden. Seit ein paar Jahren arbeite ich als Fremdenführerin. Wir machen Bootsfahrten zu den anderen ionischen Inseln und auf das Festland hinüber. In Patras habe ich vor ein paar Monaten gemeinsam mit Michalis, meinem Mann, einen fremdsprachigen Buchladen eröffnet, der ganz gut anläuft. Manchmal fahre ich nach Deutschland, aber wirkliches Heimweh habe ich noch nie gehabt. Kostas Familie fühle ich mich noch immer sehr verbunden. Sie haben mich gelehrt, was es heißt einen Platz in der Gesellschaft zu haben, in der man niemandem zur Last fällt und wertvoll ist.

Manche Menschen wissen genau, was sie wollen und gehen zielstrebig darauf zu. Ich warte immer noch ab, was sich für Möglichkeiten bieten und habe festgestellt, dass Zufälle das Leben bereichern können und manchmal sogar ein schreckliches Missverständnis dazu verhelfen kann, das Glück zu finden, das so beschaffen ist, dass man wohl freiwillig nie danach gesucht hätte.
Wer weiß schon, was morgen sein wird oder in einigen Jahren. Aber eines ist sicher: Ich kam nie in den Himmel, ich blieb auf der Erde, die mir manchmal schmutzig erschien, aber so stürzte ich auch nicht ab, ich fiel höchstens mal hin.

Kürzlich schrieb mir meine Mutter, die jetzt fast 60 ist. Sie will jetzt den Bücherwurm heiraten. Als Hochzeitsreise ist eine Kreuzfahrt durch das griechische Mittelmeer geplant und im Anschluss werden sie mich besuchen. Michalis hat sie erst zwei Mal gesehen. Sie bedauert noch immer, dass ich nichts aus meinem Leben gemacht habe.
Aber wenn ich im späten Herbst, wenn die Touristen die Insel verlassen haben, unten am Strand entlang spaziere, fühle ich mein Herz schlagen. Klar und sanft schlägt es in meinem Inneren und es durchströmt mich ein wunderbares Gefühl der Liebe für meine Heimat, für Korfu.


Danke für Eure Kritik!

23 Bewertungen, 6 Kommentare

  • Wurzelchen2

    18.06.2002, 16:20 Uhr von Wurzelchen2
    Bewertung: sehr hilfreich

    Einfach nur wow. Im Prinzip ist das ein Leben, wie ich es mir schon immer mal gewünscht habe. Ein Leben in einem Urlaubsland. Geschickt verbunden mit dem doch teilweise sehr harten Alltag, ist es eine durchaus real erscheinende Geschichte. Mach weiter

  • Andreas68

    04.06.2002, 01:41 Uhr von Andreas68
    Bewertung: sehr hilfreich

    Ihr/sie erlebte Einbindung u. Harmonie. Das kann wichtiger sein fürs Glück als Lohnarbeit, die auch nicht Voraussetzung dafür ist, Verantwortung für sein Leben zu übernehmen. Allein der innerliche Heimatwechsel erscheint mir ein kl

  • hidaka

    30.05.2002, 17:07 Uhr von hidaka
    Bewertung: sehr hilfreich

    Mich würd interessieren, ob du Costas nun abgeschleppt hast! ^_^

  • Anachronistin

    28.05.2002, 00:17 Uhr von Anachronistin
    Bewertung: sehr hilfreich

    Einfach wunderschön!!!!

  • Volker111

    27.05.2002, 00:27 Uhr von Volker111
    Bewertung: sehr hilfreich

    Hört sich gut an.

  • rolse

    26.05.2002, 12:11 Uhr von rolse
    Bewertung: sehr hilfreich

    eine schöne Geschichte. Auf Korfu habe ich mal Urlaub gemacht. 1 Woche war ich mit meiner Frau dort. Mir hat die Insel sehr gut gefallen. Ein Leben auf dieser Insel wäre ein Traum... gruß Roland