Kurzgeschichten Testbericht

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Erfahrungsbericht von jabberwocky666

Der Wanderer

Pro:

-

Kontra:

-

Empfehlung:

Nein

Ein wunderschöner Frühlingsmorgen dämmerte über das Nassachtal, als sich der Wanderer mit leisem Ächzen aus seinem klammen Schlafsack wickelte. Um ihn herum waren die Geräusche des anbrechenden Tages; die Vögel sangen ihr Morgenlied, die Ameisen suchten geschäftig nach Futter und die ersten Bienen waren auf der Suche nach frischem Nektar. Den Wanderer interessierte das Erwachen der Natur nicht. Er hatte schon unzählige Tagesanbrüche in der freien Natur erlebt, wanderte er doch schon seit über 2.000 Jahren durch Europa.

Während er die Spuren seines Nachtlagers beseitigte, dachte er an vergangene Zeiten. Damals waren sie noch viele gewesen, damals, als die wundersamen Menschen noch an die Kräfte der Natur glaubten. Er und seinesgleichen begründeten die Mythologien vieler Völker, die ihn mit Namen wie Dschinni, Kobold, Magier oder Troll bezeichneten. Ihm war es egal, da die Gestalt für ihn jederzeit veränderbar war und Namen wie Körper ihm nichts bedeuteten. Er war älter als die Menschheit, durch deren Welt er wanderte, seiner festen Überzeugung nach waren seine eigenen Vorfahren wahrscheinlich sogar die Begründer der menschlichen Rasse. Ein genetischer Unfall, dessen Langzeitfolgen sich von Jahrhundert zu Jahrhundert mehr zeigte.

Sein eigenes Volk war bereits vor Äonen auf den Planeten Erde gelangt, den Überlieferungen zu Folge als Resultat einer unvorbereiteten Flucht von seinem ursprünglichen Heimatplaneten Rezza. Leider reichten die Energievorräte nur aus, um den damals wenig wirtlichen Planeten Terra zu erreichen. Aus den Überlieferungen war ihm bekannt, dass es ursprünglich nur 300 Bewohner seiner Welt geschafft hatten, einer unbekannten Bedrohung zu entgehen. Allerdings erwies sich die Rettungsinsel Erde als denkbar ungeeignet, da bereits in den ersten Jahren nach der Landung ein Großteil der Flüchtlinge von den damals noch existierenden Dinosauriern als willkommene Beute angesehen wurde. Die Überlebenden lernten jedoch, sich anzupassen. Ein Vorteil dabei war ihr gelantineartiger Körperbau, der sich in jede gewünschte Form bringen ließ, ein weiterer ihre Begabung, ihre Umwelt zu beeinflussen und den Ablauf der nächsten Stunden vorzubestimmen.

Dank diesen Eigenschaften konnten sie auf der Erde überleben und waren sogar in der Lage, sich fortzupflanzen. Dies war zum Fortbestand ihrer Rasse auch notwendig; selbst wenn die Rezzaner auf der Erde dank eines stark verlangsamten Stoffwechsels problemlos 7.000 Jahre und älter werden konnten, so starben doch einige vor Ablauf ihrer regulären Lebensuhr. Viele landeten im Verdauungstrakt räuberischer Tiere, was im allgemeinen nicht überlebt wurde, andere kamen mit Salzwasser in Verbindung, was die organische Struktur der Rezzaner innerhalb weniger Minuten austrocknete und unweigerlich zum Tod durch Vertrocknen führte.

Der Wanderer kannte die Gefahren, die die Welt für ihn bereit hielt, daher mied er das Meer und bewegte sich nur im Landesinneren. Mit Schaudern dachte er zurück an die letzte große Katastrophe, die sein Volk traf: Auf Geheiß ihrer Führer hatte sich jeder dritte Razzaner „freiwillig“ dazu zu melden, das damals neu entdeckte „Amerika“ zu besiedeln. Leider gab es dennoch nicht genügend Freiwillige, weshalb Lose gezogen wurden. Der Wanderer hatte Glück und durfte in Europa verbleiben, seine beiden besten Freunde traf jedoch das unerbittliche Los. Sie mussten zusammen mit 138 weiteren Rezzanern an Bord eines Schiffes gen Amerika schippern. Die Angst seiner Freunde in ständiger Nähe des todbringenden Elements konnte der Wanderer nur zu gut nachvollziehen. Den sicherlich ausgestandenen Ängsten zum Trotz kam das Schiff wohlbehalten in Newark an. Während der Kapitän auf den sicheren Hafen zulief, kam ein schweres Gewitter mit starken Winden auf. Als der Kapitän den Hafen erreichte, tobte ein regelrechter Orkan, der den Dreimaster packte und gegen die Kaimauer warf. Das Holz des alten Schiffes war diesen Naturgewalten nicht gewachsen und zerbrach splitternd. Zwei Meter vom Ufer entfernt sank das Schiff im gerade mal drei Meter tiefen Wasser. Die Rettungsaktionen setzten sofort ein und man meinte auch, alle Menschen gerettet zu haben, doch schon bald stellte man fest, dass 140 Personen spurlos verschwunden waren. Von manchen fand man noch persönliche Gerätschaften und Kleidung, doch die Leichen blieben für immer verschwunden. Der Wanderer verspürte bei diesen Gedanken ein leichtes Frösteln und machte sich daher auf den Weg in das nächste Dorf.

Er geht über die kleine Lichtung, auf der er sein Nachtlager hatte und taucht ein in ein kurzes Waldstück. Dort nimmt er sein übliches Frühstück ein, das aus ein wenig Moos und Baumrinde besteht. Dank des stark verlangsamten Stoffwechsels war Essen für ihn fast ein überflüssiger Luxus. Nach wenigen Bissen machte er sich auf den Weg zur nächsten Straße, die sich schon durch den verhassten Straßenlärm ankündigte.

Während seine Stiefel auf dem Asphalt klapperten, dachte er nochmals zurück an vergangene Zeiten. Zeiten, in denen er Menschen helfen konnte. Wenn er damals auf einen Menschen traf und diesem die Möglichkeit zu einem Wunsch einräumte, so bekam er kleine, bescheidene Wünsche zu hören, deren Erfüllung ihm eine Freude war. Viele wünschten sich Gesundheit (die er mit Leichtigkeit geben konnte), andere Freiheit, einen Partner, ein Haus oder sonstige Kleinigkeiten, die er im Bereich seiner Möglichkeiten gern gewährte. Irgendwann ging es den meisten Menschen besser und die Wünsche veränderten sich. Wer früher nur Gesundheit wollte, verlangte jetzt den Weltfrieden, statt Freiheit wollte man lieber die Königswürde, statt Haus ein Schloss usw..

Diese Wünsche konnte und vor allem wollte der Wanderer dann doch nicht erfüllen, er ärgerte sich jedoch über die Dreistigkeit der Menschen und verbitterte darüber. Er war es leid, dieses maßlose Pack nach utopischen Wünschen zu fragen und wartete lieber darauf, dass jemand einen Wunsch aussprechen würde, ohne danach gefragt zu werden. Diese Wünsche erfüllte er nach wie vor gerne und sie erfüllten ihn – mit Freude.

Mit gemächlichem Schritt erreicht er die ersten Häuser eines Dorfes, das sich Baiereck nennt. Bereits nach wenigen Metern kann er ein kleines Streitgespräch zweier schon lange miteinander verheirateten Eheleute mitbekommen: „Adolf, hosch Du endlich d'r Müll naustrage?“ „Noi, in han doch geschtern Obed Fuaßball guckt!“ „Ond wenn schtreichsch endlich dui garasch?“ „Später“ „Dein später kenn i scho“ „I machs heit no!“ „Heit woltesch doch Kehrwoch und de Garte mache!!?“ „Oh Weib, wenn i bloß dei Genörgel net emmer höre müßte...“ Der Wanderer dachte nur „So sei es“ und ging weiter. Wenige Schritte weiter saß ein kleines Mädchen an einer Bushaltestelle, die recht bekümmert aussah. Der Wanderer fragte sie nach ihrem Namen und den Grund ihres Kummers. Sie antwortete: „Ich heiße Daniela und mag nicht zur Schule gehen, weil mich meine Klassenkameraden immer so ärgern. Das fängt schon immer im Bus an, dass sie mich alle hänseln. Ich wünschte, sie wären tot!“ „So sei es“ erwiderte der Wanderer und streichelte dem Mädchen zum Abschied über den Kopf.

Während die Glocken des nahen Kirchturms die achte Stunde verkündeten, steckte im Haus gegenüber ein sichtlich verkaterter Mann seinen Kopf zum Fenster hinaus und ließ eine Schimpfkanonade gegen den Kirchturm ab, die in dem dringlichen Wunsch endete, dass endlich mal jemand dieses sch.... Ding in die Luft jagen solle. „So sei es, dachte der Wanderer wieder und ging schnellen Schrittes die Landstraße entlang in Richtung des nächsten Ortes. Als Baiereck ca. einen Kilometer hinter ihm lag, hörte er einen dumpfen, wummernden Knall. Auch ohne sich umzudrehen wusste er, dass über Baiereck jetzt eine dichte Rauchwolke stand, dafür jedoch wieder drei Menschen ihre Wünsche erfüllt wurden. In der Zeitung würde später stehen, dass die Bremsen eines Tanklastzugs versagten und dieser in einen vollbesetzten Schulbus krachte. Die folgende Explosion forderte nicht nur das Leben von 28 Kindern sondern zerstörte auch noch den in der Nachbarschaft befindlichen Kirchturm. Weitere Gebäude oder Menschen kamen jedoch wie durch ein Wunder nicht zu Schaden, lediglich einem Bewohner wurden durch die Druckwelle der Explosion die Trommelfelle zerfetzt; Adolf F. würde wohl für den Rest seines Lebens taub bleiben.

Den Wanderer interessierten solche Zeitungsmeldungen nicht; er wusste meist mehr, als die Artikel hergaben. Er wusste, dass er wieder seiner Profession nachgekommen war und ein paar Menschen ihre sehnlichsten Wünsche erfüllt hatte. Alles andere zählte für ihn nicht.

Gegen Mittag erreichte er Nassach, ein weiteres Kaff in diesem hübschen Tal. Wieso mussten die Menschen jeden schönen Platz der Erde mit ihren Häusern und Straßen zupflastern? Ihm waren die Gefühle der Menschen fremd, Besitztümer kannte er nicht. Seine wenigen Habseligkeiten passten problemlos in seinen Rucksack, sein Bett war dort, wo er müde wurde. Er brauchte kein Haus, kein Auto, keine Kreditkarte und kannte doch fast jeden Ort in Europa und Asien.

In Nassach wurde er Zeuge eines weiteren Streits, diesmal unter einem jungen Pärchen. Nach einer erfolglosen Diskussion drehte sich Tanja abrupt um und ließ ihren Lover mit den Worten „Ich wünschte, ich müsste Dich nie mehr wiedersehen“ einfach stehen. „So sei es“, dachte der Wanderer und er dachte auch an die Veränderungen der Neuzeit, die technische Revolution. Er dachte an die kleine, fast gefahrlose Laser-Augenkorrektur, der sich Tanja am Nachmittag unterziehen wollte und daran, dass Tanja danach recht schwarz sehen würde....

Seine Gedanken fanden ein jähes Ende, als er Teile eines Gespräches hörte, das ein Getränkelieferant mit einem Lebensmittelhändler führte. Darin beklagte sich der Lieferant über sein schweres Los und wünschte sich, nicht mehr arbeiten zu müssen. Der Wanderer dachte müde „So sei es“, während sich von der Ladebordwand des nahe stehenden Lastwagens ein 100-Liter-Bierfass löste, von der Pritsche fiel und dem Lieferanten seine Knie zerschmetterte.

Ansonsten lag Nassach recht ausgestorben da, da die Einwohner alle auf Sightseeing-Tour nach Baiereck aufgebrochen waren. Der Wanderer war nach Erfüllung der fünf Wünsche auch müde und suchte sich daher kurz hinter Nassach einen Schlafplatz. Am nächsten Tag würde er weiterziehen, neuen Wünschen entgegen, nach Esslingen, nach Stuttgart oder ans Ende der Welt – Hauptsache weit weg von Salzwasser!

44 Bewertungen, 4 Kommentare

  • StadtmausX

    21.04.2002, 14:06 Uhr von StadtmausX
    Bewertung: sehr hilfreich

    Sehr schöner bericht, lässt sich gut lesen. Gruß StadtmausX

  • bavariangirl

    15.04.2002, 18:49 Uhr von bavariangirl
    Bewertung: sehr hilfreich

    Klasse, ich habe auch das richtige Los gezogen nur ich weiss nicht wieviele Wünsche ich erfüllen muss..... Gruesse Susanne

  • Goldband

    14.04.2002, 17:32 Uhr von Goldband
    Bewertung: sehr hilfreich

    Ein toller Bericht.

  • *Weserhexe*

    13.04.2002, 22:25 Uhr von *Weserhexe*
    Bewertung: sehr hilfreich

    Genial.Läßt sich sehr schön lesen und ist mit viel Spannung. Hat Spass gemacht diese Geschichte zu lesen :-)(habe ich dir bei Ciao ja schon kommentiert)